Briefe aus der Quarantäne

Briefe aus der Quarantäne

Rudi-Stephan-Gymnasium sammelt Stimmen und Erfahrungen seiner Partnerschulen

Den diesjährigen Europatag der Europäischen Union am vergangenen Samstag hat wohl nicht nur wegen des naturgemäß schulfreien Wochenendes kaum ein Schüler zur Kenntnis genommen.

Am 9. Mai 1950 unterbreitete Robert Schuman seinen Vorschlag, die Kohle- und Stahlindustrie in Frankreich und Deutschland einer gemeinsamen obersten Behörde zu unterstellen: Der Schuman-Plan gilt als Grundstein der heutigen EU, das Datum jährte sich 2020 zum 70. Mal, eigentlich ein Grund für die Europaschule RSG, die Feierlichkeiten vielleicht sogar etwas größer ausfallen zu lassen als man dies am Europäischen Tag der Sprachen im September im Rudi gewöhnlich tut. Doch 2020 ist Corona-bedingt eben alles anders.

„Wir hatten im Mai verschiedene Austausche mit unseren Partnerschulen in Italien und Frankreich geplant. Am 9. Mai wollten wir neben der Europafahne zur Begrüßung unserer italienischen Gäste eigentlich noch deren Landesfahne gesellen“, bedauert Daniel Wolf, unter anderem Italienisch-Lehrer am RSG, die Ausnahmesituation. Und die stellte sich in den Partnerschulen der Wormser deutlich dramatischer dar als in Rheinhessen. Schulleiter Dr. Markus Wallenborn streckte bereits früh seine Fühler nach Busto Arsizio, Palermo und zur neu gewonnenen Partnerschaft in Ribeauvillé aus, um zu erfahren, wie es den Freunden dort ergehe. „Nachdem wir von unseren Kollegen die Mitteilungen bekamen, dass uns reihenweise die Austausche platzen – und zwar deutlich bevor dies in Deutschland auch politisch beschlossen wurde – haben wir weiterhin Kontakt gehalten und versucht, während der furchtbaren Entwicklungen in Italien und Frankreich trotz der geschlossenen Grenzen wenigstens den Kontakt zu unseren befreundeten Schulen zu halten und zu zeigen, dass wir sie auch in der Krise nicht vergessen.“ Bald schon gingen Mails und Briefe von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrenden dieser Schulen in Worms ein. „Die Briefe sind eindrucksvolle Zeugnisse nicht nur der Situation in den Ländern vor Ort, sie geben besonders Auskunft über die seelische Verfassung der Jugendlichen und Kollegen“, so Dr. Wallenborn beeindruckt. „Wir haben uns dann entschieden, diese Wortmeldungen nach und nach auf unsere Homepage zu stellen, im Original und in deutscher Übersetzung, und so dem europäischen Gedanken der Partnerschaft Rechnung zu tragen.“

Dort gibt die Schülerin Fiamma Cusumano aus Palermo tiefe Einblicke, wenn sie schreibt, dass ausgerechnet der digitale Unterricht auf Distanz „der einzige Moment von Normalität“ geblieben sei, während das Virus „uns unserer Gewissheiten beraubte und uns viel von unserem Leben nahm. Aber von all dem, was uns genommen wurde und was unsere Vorstellung von der Welt, wie wir sie immer gekannt haben, zerrissen hat, hat uns am meisten verunsichert, dass uns der zwischenmenschliche Kontakt genommen wurde.“ Der Abiturient Antonio Catalano aus Busto Arsizio spricht dagegen von „der großen Illusion der Langeweile auszuweichen“. Das Abitur komme ihm „wie ein Blinddate vor, und die bisherige Arbeit von Lehrern und Schülern wird aufs Spiel gesetzt.“ Jeder Tag sei „eine Fotokopie der vorherigen Tage, die nun seit mehr als 40 Tagen identisch ausgedruckt werden.“ Und auch Catalano kommt wie die Sizilianerin Cusumano zu dem Schluss, dass es gerade der Fernunterricht gewesen sei, der ihn in dieser Situation gerettet habe: „Der Leuchtturm, der den Blick auf ein sicheres Meer erhellt, auf den man zusteuern kann und so den totalen Schiffbruch umgeht.“ Die Schule als letzter verbliebener sicherer Hafen.

Aus Frankreich, und dort von der jüngsten Partnerschule des Rudi-Stephan-Gymnasiums, meldete sich vom Gymnasium in Ribeauvillé die Kollegin Catherine Duplouy. Die Schule ist dort seit dem 9. März geschlossen, eine Woche vor der allgemeinen Schließung aller Schulen in Frankreich, da die Region Haut-Rhin aufgrund eines einwöchigen internationalen Kirchentages in der Nähe von Mulhouse sehr schnell am stärksten betroffen war. Auch Duplouy berichtet von den typischen Erfahrungen des Homeschooling, dass selbst wenn Schülerinnen und Schüler einen Computer hätten, sie nicht alle über eine gute Internetverbindung verfügten, was ihre Arbeit verlangsame und erschwere. Erfahrungen, die die Kollegen im heimischen Worms durchaus teilen. „Die Franzosen würden gerne zum normalen Leben zurückkehren“, schreibt die französische Kollegin, „aber es scheint kompliziert zu werden, vor allem in der Schule: Man kann sich kaum vorstellen, sich von einem Tag auf den anderen in Klassen mit 35 Schülern wiederzufinden! Warten wir ab, wie es weitergeht“ schließt sie, trotz aller Befürchtungen bemüht um vorsichtigen Optimismus.“

Seit dieser Woche endeten in Frankreich die rigiden Ausgangsbeschränkungen, denen zufolge es seit Beginn der Schließungen verboten war, mehr als einen Kilometer von zu Hause entfernt auszugehen. Französischlehrer Daniel Wolf blickt wehmütig auf den Kontakt mit Catherine Duplouy, der Lehrerin, mit der er seit über einem Jahr intensiv den Schüleraustausch vorbereitet hatte: „Diese Woche wären wir dorthin gefahren, es ist zum Heulen“, bekennt er. „Aber gleichzeitig gibt es mehrere Schüler, die mittlerweile engen Brief- bzw. Mailkontakt mit ihren Austauschschülern pflegen.“ Schulleiter Dr. Markus Wallenborn ergänzt: „Es ist ermutigend, wie all die jungen Menschen mit der Situation umgehen und sich nicht unterkriegen lassen. Das sollte und wird uns doppelten Mut am Rudi geben, es ihnen gleich zu tun!“

Kai Berkes

Verwaistes Schulgebäude des Gymnasium in Ribeauvillé

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